Im Juli habe ich nach einiger Zeit mal wieder eine Etappe bei der Tour de France angeschaut. Es war das Abschlusszeitfahren und Geraint Thomas sicherte sich dabei seinen Toursieg. Lange hatte ich nicht mehr geguckt und den professionellen Radsport gemieden.
Nach der Doping-Affäre im Jahre 2006 hatte ich einfach keine Lust mehr das zu anzuschauen. Dabei mag ich Frankreich und mag den Rennradsport.
Es war aber nicht einmal so ein bewusster Vorgang. Ich hatte einfach keine Lust mehr. Wahrscheinlich konnte ich die Etappen einfach nicht mehr unbefangen anschauen.
Außerdem hatte ich auch weniger Zeit für mein Hobby Radsport – sowohl im Fernsehen als auch auf der Straße. Ich studierte Geisteswissenschaften und hatte Wichtigeres zu tun.
Die Tour de France-Faszination als Ausgangspunkt für die Entdeckung der eigenen Umgebung mit dem Rad
Irgendwie erinnerte mich diese Tour-de-France-Etappe im Juli daran, dass meine heutige Faszination auch etwas mit diesem Blog hier zu tun hat, an dem ich nunmehr annähernd 2 Jahre arbeite.
Obwohl es nun 13 Jahre her war, dass ich so richtig intensiv die Tour geschaut hatte, hat sie einfach einen Einfluss. Auch ich als einer, der sich allgemein mit der Alternativkultur verbunden fühlt, bin nicht frei von Mainstream-Einflüssen. Man muss da ehrlich zu sich sein.
Und dennoch, ich war nie in einem Radsportverein, war irgendwie immer Solitär was das Radfahren abelangt.
Ich glaube ich hätte mich auch gar nicht wohlgefühlt in Wettkampfsituationen. Trotzdem hat mich die Tour de France als 15- oder 16jähriger dazu inspiriert viele Kilometer in den Sommerferien durch den Nordschwarzwald zu fahren.
Dabei war ich stets mit dem Rennrad unterwegs, wenn ich lange Strecken fuhr. Was ich dann aber gleich nach den ersten Touren feststellte: Es war nicht einfach dieses Strecke-Machen, was mir wichtig war.
Vielmehr hat gleich, ganz von alleine, dieser Blick für die Umgebung dazu gehört. Ich war irgendwie fasziniert davon, dass 40 Kilometer von meiner damaligen Heimat entfernt alles so anders aussah.
Sowohl von der Natur her, aber auch von der Kultur war es hier anders. Man spürt das einfach.
Enzklösterle und seine Pfadabhängigkeit
Wenn man Jugendlicher ist, dann interessieren einen immer bestimmte Mainstream-Strecken. Man fährt dahin „wo was geht“ und nicht dorthin wo sich „Fuchs und Has Gutnacht sagen“.
Man hat dann meist mit der S-Bahn oder wenn man mit dem Auto gefahren wird, bestimmte Wege, die man immer fährt. Und andere Wege, die vielleicht 20-100 Kilometer von einem weg sind, die nimmt man nie.
Sie gehören nicht dazu. Und die Wege, die man nimmt, strukturieren Gesellschaft. Wenn niemand nach Enzklösterle fährt (eines meiner damaligen Lieblingsziele), dann geht es Enzklösterle wirtschaftlich auch nicht so gut.
Vielleicht tut Enzklösterle aber auch nichts dafür, dass Menschen hierher kommen. Zudem spielt da ein komplexes Geflecht aus den Menschen vor Ort, aber auch den Entscheidern, die in der Politik über Enzklösterle stehen eine entscheidende Rolle (z.B. Landes- oder Bundespolitiker).
Zudem spielen Vorurteile eine Rolle. Da geht halt nix, da passiert nix etc. Was im Falle von Enzklösterle vielleicht gar nicht stimmt. Es gibt dort immerhin einen Minigolfplatz.
Aber mir geht es hier gar nicht um Enzklösterle als Enzklösterle. Sondern um die gesellschaftliche Struktur von Pfaden, die dazu führen das ein Dorf so ist wie es ist. Diese Pfadabhängigkeit ist hier ganz wörtlich gemeint – und sie strukturiert das Leben von Menschen stärker als uns bewusst ist.
Weg und Gesellschaft. Bzw. wie Wege und Gesellschaft sich wechselseitig beeinflussen interessiert mich. Oder man könnte auch sagen: Verkehr und Gesellschaft.
Das ist es eigentlich was mich interessiert und das war mir als 15-,16-Jähriger eher noch nicht so bewusst.
Der Radsport als Inspirationsquelle für eine Art soziologisches Erlebnis
Dazu kommt das Kontemplative, das man beim Radsport hat. Oder vielleicht ist es eher kein Radsport, was ich da gemacht hatte. Es ist eher ein Radwegefinden.
Aber eben nicht nur aus einer rein touristischen Sicht (die spielt auch eine Rolle), sondern aus einer umfassenden Sicht.
Damit ist das wohl kein Radsport im engeren Sinne. „Sport“ ist hier nur ein Nebenprodukt, sozusagen ein notwendiges Übel. Es geht hier gar nicht um Wettkampf oder um Schnelligkeit.
Vielmehr geht es um das Erlebnis. Aber nicht das Erlebnis als lustvolles Element (oder schmerzvolles Element, wenn man wieder einen Berg bezwingen muss). Das Erlebnis ist dabei nur ein Teil einer gewissen soziologischen Perspektive.
Was dazu kommt ist eine journalistische Neugier, die aber eben immer eingebettet ist, in Fragen wie: „Wo bin ich hier?“, „Wie leben die Menschen hier?“, „Wen wählen die Menschen hier?“, „Was gibt es hier zu essen?“, „Welcher Dialekt?“ etc.
Der Radsport im Fernsehen, den ich damals als Jugendlicher sah, war also nur die Inspirationsquelle, die mich ganz woanders hinführte.
So dass ich am Ende den Sport und den Wettkampf, den ich nie betrieben hatte, komplett streichen konnte.
Radsport und Doping
Und als eben der Radsport seine Unschuld verlor (2006), vor allem medial, interessierte mich dieser eben nur noch peripher.
Ich wechselte dann auch ins Tiefere und begann Dokumentationen von Dopingjournalist Hajo Seppelt zu konsumieren, von dem geständigen Jörg Jaksche alles zu lesen und auch Interviews mit dem Dopingjäger und Naturwissenschaftler Werner Franke mir reinzuziehen.
Nur durch diesen Zugang zur dunklen Seite des Sports, lerne ich seine gesellschaftliche Bedeutung wirklich kennen. Man lernt irgendwann, dass es eigentlich in dieser Sportart im Besonderen aber in vielen anderen professionellen Sportarten gar nicht ohne Doping ging.
Ja, es gab in der Tour de France noch nie eine Phase ohne Doping oder ohne Betrug. Das ist sozusagen schon immer Teil des Systems und Teil des Spektakels gewesen.
Und hier interessiert mich wieder was gesamtgesellschaftlich daraus folgt. Bisher vielleicht noch wenig bis nichts. Aber ich kann mir kaum vorstellen, dass ein solcher gesellschaftlicher Widerspruch bis in alle Ewigkeit ausgehalten wird (außer es geht zurück in vor-aufklärerische Zeiten – ich will das zumindest nicht hoffen).
Der Radsport als Beispiel für das Zusammenfallen von Unmoral und Normalität
Was daraus ensteht ist etwas Doppeltes – und die Perspektive ist immer diejenige auf die Gesellschaft. Ich betrachte einerseits durch meine Radtouren die Gesamtgesellschaft, wie sie so lebt – und wie sie auch in unmittelbarer Umgebung lebt.
Und die zweite Perspektive ist die auf den Leistungssport auch als eine Metapher für die Leistungsgesellschaft mit ihren Widersprüchen. Hohe moralische Ansprüche sind gepaart mit vollkommen unterirdischem Verhalten (sprich: Doping), das aber, wenn man im System drin ist, gar nicht als solches erkannt wird.
Der Radsportler weiß im Augenblick des Betrugs nicht, dass er betrügt. Vielleicht weiß er es abstrakt schon, aber es ist eher so ein: „Okay, eigentlich darf ich ja kein Alkohol trinken, weil es schlecht ist, aber es macht ja eh jeder und von daher ist das auch normal.“
Das Normale und das Unmoralische fällt hier zusammen – und der Doper denkt eben, dass er die Grenzen schon im Griff hat. Der ein oder andere hat sie auch im Griff, aber eben nicht jeder.
Wenn ich also auf meinen langen Touren an einem Feuerwehrfest vorbei fahre, wo die Menschen halt mal etwas trinken, so habe ich auf der anderen Seite den dopenden Radsportler irgendwie gespiegelt. Ich will hier nicht moralistisch werden. Als Soziologe denke ich vielmehr an das System – und auch dass es hier und da seine Risse, seine Widersprüche hat.
Übersichtliche Darstellung & die Dauerhaftigkeit von Kulturlandschaften
Ich weiß, das ist jetzt alles abstrakt etc. Aber mit diesem Anspruch fahre ich durch die Landschaft – und mit diesem Blick fahre ich jetzt seit 2016 (endlich wieder!) 4.000 Kilometer im Jahr.
Jetzt nicht mehr mit Rennrad, sondern mit Reiserad, aber dennoch auf eine Art anspruchsvoll. Schnelligkeit spielt kaum eine Rolle. Nur dann wenn ich merke, ich habe mal wieder zu viel fotografiert und muss jetzt auch mal endlich abends ins Hotel oder in die Unterkunft kommen.
Aber mein Schnitt ist mir vollkommen egal. Ich will nur von A nach B kommen. Wobei mich vor allem interessiert, was es zwischen A und B alles so zu sehen gibt.
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Mehr InformationenAm Ende entsteht dann eine übersichtliche Darstellung. Eine Karte über ganz Deutschland (plus umliegende Länder und evtl. auch etwas weiteres Europa). Es ist wie ein Mosaikbild. Aber vielleicht doch etwas anders, weil man die Mosaiksteine selbst wieder auseinanderbauen kann und neu zusammensetzen kann.
Man kann immer tiefer gehen – und dennoch geht es immer um die Übersicht. Die ist immer mitgedacht.
Das Ergebnis ist dann dennoch etwas profan, aber das muss es sein! Ich stelle die Dörfer und Städte dar, durch die z.B. der Rheinradweg führt und überlege mir, was es zu dem ein oder anderen zu sagen oder zu erzählen gibt. Wichtig ist aber immer, dass der Weg erläutert wird.
Denn Menschen sollen ihn ja nachfahren können und selbst erleben können, wie die Menschen so woanders denken.
Der professionelle Radsport als Ausgangspunkt zu einem Blick über die Gesellschaft. Der Wettbewerb, den man am Fernsehen schaut, um am Ende den Wettbewerb selbst zu überwinden. Denn wenn man die Menschen so anschaut, ist das „Sich Messen“ immer nur etwas Lokales, etwas Kurzfristiges.
Und Ergebnislisten sind nur ein historisches Abbild einer Moral, die mal mehr oder weniger über Doping nachgedacht hat. Sie sind viel Vergänglicher als Kulturlandschaften, Eingriffe in die Natur und die Struktur von Wegen (wie der Claudia Via Augusta), die gar Jahrhunderte überleben können und ein Zeugnis ihrer selbst sind.