In Tübingen hat sich seit dem 20. September ein unfassbares Drama für die Verkehrsorganisation vollzogen. Die Mühlstraße und damit die zentrale Verkehrsachse wurde zugunsten des Radverkehrs für Autos gesperrt.
Dazu wurde auf der Neckarbrücke in Tübingen ein Zweirichtungsradweg errichtet und den Autos wurde zugunsten der Radfahrer eine Spur weggenommen. Über diese Neckarbrücke führt übrigens unmittelbar der Neckarradweg!
Schlimm! Schlimm! Schlimm – für die Autofahrer der Nation!
Die Tübinger Wutbürger überschlugen sich in den sozialen Netzwerken (also in Facebook) und viele Autofahrer ignorierten auch das neue Verkehrsgebot.
Was war geschehen? Dazu vielleicht ein kurzer Abriss über die Mühlstraße und über die Verkehrsmaßnahme, welche ich übrigens heftig befürworte.
Die Sperrung der Mühlstraße für den Autoverkehr bedeutet mehr Freiheit für Radfahrer
Da ich selbst für die sehr gute Satirepartei die PARTEI im Gemeinderat sitze, habe ich einen gewissen Innenblick in die Politik Tübingens.
Der Antrag für die Mühlstraßensperrung wurde von der grünen Fraktion in den Gemeinderat eingebracht. Das Problem war: Es gibt auf der Neckarbrücke, die kurz vor der Mühlstraße liegt, drei Spuren, die bisher hauptsächlich alle für den Auto- und Busverkehr gedacht waren.
Als Radfahrer hatte man nur einen Mittelstreifen und muss sich durch die Autos zwängen. Oft hat man nicht genug Platz und die Autofahrer standen sogar noch auf dem Radstreifen.
Jetzt war die Idee für Verkehrsgerechtigkeit zu sorgen und in der Mitte der Neckarbrücke einen Radweg in zwei Richtungen anzubieten. Das fand ich erstmal gut!
In einer Hintergrundsitzung signalisierte ich den Grünen spontan meine Zustimmung. Sie haben 14 Mitglieder im Gemeinderat und benötigen für eine Mehrheit 21. Wir sind in der Fraktion zu dritt. (Das würde also im Falle einer Abstimmung ohnehin noch nicht reichen.)
Da hier auch die zentrale Achse der Stadtbusse durchführt, ging es dann von der Verkehrsorganisation her nicht mehr, Autos geradeaus fahren zu lassen.
Also dürfen die Autos von der Neckarbrücke her nur noch rechts oder manchmal links fahren. Geradeaus durch die Mühlstraße ist es jedoch nicht mehr möglich.
Dazu muss man sagen, unser Oberbürgermeister wollte diesen Test nur für 2 Monate durchführen. D.h. es könne sein, dass er nach 2 Monaten Test wieder abgebrochen wird.
Die Freiheit für die Radfahrer wäre so nun wieder weg! Aber mal gucken.
Abgestimmt wurde das ganze übrigens noch nicht im „Klimaausschuss“ der Kommune Tübingen. Denn der OB kann das als verkehrsrechtliche Maßnahme alleine entscheiden (was ihm von vielen als undemokratisch vorgeworfen wurde). Aber den Verschiebungsanträgen wurde nicht zugestimmt.
Insofern würde die Sperrung für Autos dann letztlich umgesetzt werden. Dies würde für Radfahrer mehr Freiheit bedeuten!
Was nach dem 20. September geschah – Wie die Mühlstraßensperrung und der Radweg auf der Neckarbrücke in der Praxis funktioniert
Jetzt ist es natürlich spannend, wie das ganze in der Realität funktioniert. Ganz sicher war ich mir auch nicht.
Dazu muss man sagen, dass am 20. September in Tübingen ohnehin Verkehrschaos war. Es war Fridays-for Future-Demo und über 9.000 Menschen waren in der Stadt, um für eine Klimapolitik zu demonstrieren, die es ja derzeit in der BRD noch nicht gibt.
Erst in den nächsten Tagen sollte sich also zeigen, ob das ganze verkehsmäßig funktionieren würde.
Die Autos dürfen jetzt nur noch rechts abbiegen. Es sollte sich zeigen, dass viele davon überrascht waren.
In den ersten Tagen musste die Polizei noch ordnend eingreifen. Aber es zeigte sich überraschend schnell, dass es immer weniger Autos wurden. Es gibt immer „Wutautofahrer“, die das ganze nicht ernst nehmen wollen – und es gibt Leute, die sich nicht auskennen.
Aber insgesamt nahm der Verkehr schnell ab. Ein Blitzer wurde zeitenweise auch eingerichtet.
Am Anfang gab es noch das Problem, dass die Stadtbusse Verspätung hatten. Aber auch das pendelte sich ein.
Natürlich (das wurde auch kritisiert) wird die Sperrung der zentralen Achse in anderen Stadtteilen für mehr Verkehr sorgen. Aber dieser findet oft auf Hauptverkehrsstraßen statt, so dass die Bewohner davon wenig mitbekommen.
Zudem muss man solche Maßnahmen auch langfristig betrachten. Wenn man weiß, dass man in eine bestimmte Stadt nicht mehr anders hineinkommt, so wechselt man eventuell das Verkehrsmittel.
Mehr Platz ist dadurch gewonnen und es gibt ja auch positive Beispiele von Städten, die schrittweise, Straßenzug um Straßenzug mehr Platz für alternative Verkehrsmittel geschaffen haben. Hier sei nur mal die Stadt Kopenhagen erwähnt.
Die Kopenhagenisierung Kopenhagens ist nicht an einem Tag erfolgt. Heute ist die Stadt die Radverkehrshauptstadt Europas!
Perspektive für die autofreie Innenstadt Tübingen – Die Mühlstraßensperrung genügt nicht!
Ich selbst hatte mich vor einem halben Jahr mit Pontevedra beschäftigt und einen Antrag in den Stadtrat eingereicht wie man mit solchen positiven Beispielstädten in Tübingen umgehen könnte.
Natürlich ist eine Umsetzung im engen Tübingen kompliziert. Aber insgesamt bedeutet eine autofreie Innenstadt mehr Lebensqualität, mehr Inklusion für Kinder, Ältere etc. und auch sogar mehr Umsatz für Einzelhändler.
Zudem ist es sowieso gut für den Umweltschutz. Man muss halt einfach sehen, dass man engen Platz nur einmal vergeben kann und in den letzten 70 Jahren wurde er oft einseitig fürs Auto vergeben.
Diese Monokultur aufzulösen und für ganz unterschiedliche neue wie alte neugemachte Verkehrsmittel einzusetzen ist die Aufgabe für die nächsten Monate und Jahre. Sonst wird der CO2-Verbrauch halt noch weiter steigen.
An diesen Gedanken ist nicht viel kompliziertes und dennoch gibt es, wenn man das konkret macht, oft heftigen Widerstand. Selbst diejenigen, die das Ziel teilen, trauen sich oft nicht die Schritte zu gehen.
Was dabei entscheidend ist: Man muss offen für Experimente sein und auch testweise etwas ändern wollen. In Pontevedra hat man auch Straße um Straße gesperrt und nicht alles auf einmal.
Die Forderung dagegen nach einem, umfassenden Konzept kann oft bedeuten, dass man viel Papier produziert, um nichts zu tun. Es soll alles so bleiben wie es ist. Das ist die Strategie unserer Bundesregierung in Sachen Verkehr seit Jahren.
Es braucht also genau zwei Dinge, wenn man die Verkehrswende schaffen möchte, um mehr Platz für Fußgänger, Radfahrer und für Mikromobilität aller Art zu schaffen:
1. Geld und
2. Umsetzung.
Geld hat die reiche Bundesrepublik. Jetzt muss man es nur noch machen. In der Mühlstraße wurde schon einmal etwas getan. Die Mühlstraßensperrung wurde erstmal umgesetzt. Dafür brauchte man sogar gar nicht mal so viel Geld.
Hoffen wir, dass das so bleibt. Jedenfalls ist mir aufgefallen, dass ich noch nie so viele Kinder gesehen habe, die die Mühlstraße und Wilhelmstraße mit dem Rad entlang fahren. Das mag ein subjektiver Blick sein, aber wir werden es anhand der Zahlen der nächsten Jahre sehen (wenn die Sperrung fürs Auto bleibt).